Mittwoch, 15. November 2006

Lu lernt Französisch, Lektion 9.

"Ach, isch bin eutäh in einem Eimer!" schrillt es schon vom Flur her. Helga und ich hatten gerade wieder eine regelmäßige Atmung nach dem Aufstieg, der ja jetzt, im dunklen Herbst noch mit Extraproviant beladen ist. 0,5 liter Kaffee, im Pappbecher, ohne bringen wir kein gesungenes Wort mehr ans anbrechende Tageslicht.
Helga hatte sich offensichtlich von ein paar Tüchern getrennt und auch den Weg zurück zu westlichen Duschseifen gefunden, jedenfalls sass sie nach wilden Rosen duftend und in Wolle gestrickt neben mir, und nur ein Tuch zierte die ganze Frau. War Indien am Ende dann doch wieder zu weit weg?
Aber alors, zurück zu Marie und ihrem Eimer.
Sie flatterte vor der Tafel mit ihren Seidentüchern (und zwar so vielen, dass sich Helga prima hätte neu einwickeln können) und wir alle bestaunten ihre offen zur Schau getragene Misere.

Hätten wir sie denn auch erkennen können, ich meine so richtig. Herr Blume, der ihr am nächsten sitzt, lächelte frisch betäubt von Maries Chanel-Schweif, und wir anderen zwei, also Helga und ich, verstanden nix, lächelten Weise und griffen uns unsere Pappbecher, Prost.
Marie stoppte mitten in ihrem Rotoren-Dasein und begann mit einem "Alors, ihr glaubt nischt, was isch aböh inter mir!"

Marie war uBahn gefahren, das macht sie immer. Und als sie so da sass und ihre schönen Schuhe betrachtete, da sei ihr (MERDE!) diese kleine Laufmasche in ihrem Strumpf aufgefallen.

"Isch dachtöh OH NO, das darf nischt, wie gehe isch da herum, mit eine LOCH in meine teure Strummpf, aböhr dafür aböh isch immer eine kleine Flasche von Nagellack dabei, damit ich das flicken kann von selbst und schnell. Voilá, isch 'oläh also meine kleine Flasche Lack aus der Taschöh, ziehe meinen Schuh aus und da zetert dieser kleinöh, alte Mann neben mir los, ganz plötzlisch! Isch denköh, a! was 'at öhr denn jetzt, und ich verstand keine Wort, es war arabisch oder türkisch, nein, isch weiß, arabisch 'ättöh isch noch eine wenig verstanden weil isch dort 'abe gelebt für ein paar Jahre, es muss türkisch gewesen sein. Alors ... er brüllt also auf mich ein, und isch stehäh dort mit meine Schuh und sage, wenn sie nicht auf der Stellöh' auf'ören misch anzuschreien, werfe ich ihnen die Schuh vor die Kopf!"

Helga gackert laut los, offensichtlich Koffeinschock, sie wirkt fahrig. Im selben Moment geht die Tür auf, und Tis-Ta-Ro kommt mit verschlafener Asiatenfrisur herein (bedeutet: sie ist genau so, wie er gelegen hat, also rechtslastig) und wird von Marie am Arm gepackt, bevor er auch nur die Tageszeit sagen kann ...

"... und dann wird er noch fuchsteufeligöhr, und zeigt immer auf mein Bein mit Strumpf, und isch halte ihm den stinkenden Lack direkt vor die Nasöh, damit er sieht, das isch weiß mich zu wehren mit andöröh Mittel als er denkt."

Kunstpause Marie, wir alle gucken mächtig beeindruckt, die Frau weiß ihre Waffen zu gebrauchen. Draussen auf dem Gang Olgas Stechschritt in italienischen Stiefeln. Tack-Tack-Rumms, Tür auf:

"Bon soir" dröhnt Olga, und Helga: "Die sollte auch mal auf italienischen Kaffee reinfallen wie auf die Schuhe, dann klappt das vielleicht mit den Tageszeiten."
Holla. Höre ich da Missmut raus?

Aber Marie war nicht mehr zu stoppen, bezahlter Kurs hin oder her, das musste jetzt raus. Also:

"... Jedenfalls isch attöh diesen alten, bösen Mann durchgeschaut. Ein Sitz weiter sass diese arme Frau unter eine Burka, und isch aböh misch schon immer eingesetzt für die Rechte der Frau überall und keine soll so sitzen wie eine Gespenst unter Laken!"

Sie liess Tis-Ta-Ro wieder los, offenbar brauchte sie ihn nicht mehr als Sparringsobjekt und er ging ergeben und mit einem Hauch Chanel auf seiner Jacke zu seinem Platz hinten rechts.

"... Isch sagtöh dann, dass wäre ja klar, so eine Beschiss, so eine Quatsch, ob es ihm schon einmal wäre aufgefallen, dass er hier nischt mehr lebt in die Berge mit Ziegen zusammöhn?"

(Beeindrucktes Nicken meinerseits, Helga ließ so was nach Indien scheinbar kalt, Tis-Ta-Ro kam noch nicht richtig mit und Olga sortierte sich und ihre Haare erst einmal ausufernd, machte aber ein sehr interessiertes Gesicht.)

"... Darauf kam von ihm wieder etwas langes, was isch nischt verstand, aber mir war es gleich, ich 'aböh das Recht, meine Strümpfe zu flicken wann und wo isch will, und das sagte isch ihm auch, und zwar klipp und äh ... klipp. Isch sagtöh, wenn er es nischt ertragen kann, in seine Alter eine bestrumpftöh Bein von einer französischen Frau zu sehen, dann hätte er ein Problem, und er solle zurück zu seine Berge und Ziegen, wo ihn kein Seidenstrumpf mehr den Blick vernebelt! Alors ... das 'allöhs 'aböh isch ihm geworfen an die Kopf und seine Frau unter die Laken fand das bestimmt gut, und da dachte isch, isch setzöh noch eine drauf - isch war SO wütend!- und sagtöh, dass es nischt sein kann, das er versteckt seinöh wunderschöne Frau unter einem LAKEN!"

Uff, ich gab nach. Laut gackernd brach ich gegen Olgas Wangenknochen in Lachen aus, das war der Höhepunkt. Marie kapierte natürlich und meinte, es wäre ihr klar gewesen, dass unter der Burka mitnichten eine knackige Salome gesessen hätte, sondern eine Frau weit jenseits der Menopause, aber gut, wenn Frau schon mal gerade dabei ist, die westliche raushängen zu lassen, und er solle froh sein, dass sie nicht von damals und den verbrannten Büstenhaltern angefangen hätte.
Am Ende stieg er immer noch schimpfend mit der vermummen aus, und Marie feierte ihren stillen Triumph mit einem Tropfen Nagellack auf ihrem Strumpf, und jeder durfte zugucken, so!

Es folgte eine halbstündige Diskussion über unterdrückte Frauen, eigene Erlebnisse und Emanzipation und Länderanpassung im Allgemeinen, wobei Tis-Ta-Ro beachtlich still blieb und Olga sehr lebhaft wurde.
Passte aber alles auch irgendwie zu Unite Trois, weil da geht es ausufernd und dauernd nur um Klischees; was Männer und Frauen vereint und die selben auch gewaltig trennt. Wir taten uns alle sehr sehr schwer, was ich ja als absoluten Pluspunkt sehe, aber so richtig flüssig macht das den Unterricht auch nicht, wenn alle stumm vor ihrem Blatt sitzen und ihnen partout kein Klischee einfallen will.
Dafür hat Olga ihre Liebe für mich entdeckt, vor allem seitdem sie weiß, was ich beruflich mache und wie wichtig das für sie ist. Müssen wir einen Dialog bestreiten, dann strahlen wir uns nicht nur beseelt an, wie vorher, nein, jetzt mit vollem Körpereinsatz von Olga. Macht sie einen Witz, bekomme ich die halbe Olga in die Rippen gedonnert, gefolgt von einem lauten Lachen, wo rein akustisch nur noch das nach hinten sausende Wodkaglas fehlt, und sprechen wir einen Dialog, dann knuddelt sie mich zwischendrin immer beherzt am Arm, rubbelt mich durch und lacht micht sehr laut an. Wenn sie nächste Woche auch noch mit mir und Helga den Aufstieg zu Fuss antritt, dann mach ich mir langsam Gedanken und setz mich zum Exil-Italiener um, der zischt wenigstens nur seine immense Bildung durch die Reihen.
Alors...

Heute gelernt: Marie kämpft französisch, und ich kann keine Klischees.