Mittwoch, 14. Dezember 2005

juli & mars, oder warum juli nicht "hi" sagte.

[auf den letzten drücker mein kleiner beitrag zu don alphons DADA und DALI award 2005 ]

Der regen war draussen, die tropfen finden sich in der mitte der scheibe, verbinden sich zu etwas großem und schwimmen den rest nach unten gemeinsam.
sie, wir nennen sie einfach mal juli, stand drinnen, gepfercht wie in einem zwinger, so würde sie später situation und lage am telefon beschreiben.
die scheiben im bus waren beschlagen, die welt draussen nur durch spektralfabene lichtreflexe in den rinnsalen an der fahrerscheibe und an den geräuschen zu erahnen. irgendwo weiter hinten sassen jugendliche mit knoblauchpizzen, der ganze bus wurde aromatisiert, schals vor empfindliche nasen gedrückt, missmutige, vielleicht auch hungrige blicke nach hinten verschickt.

warum ich, warum hier, warum nicht alles woanders, fragte juli sich, und bekam auch prompt keine antwort, wie sie es von sich gewohnt war. antworten, die hatten die anderen, sie nur die fragen. plötzlich die stelle, an der es bei regen besonders in den scheiben funkelte, der weihnachtsmarkt, der umfahren wird. die bustüren öffnen sich wie pforten, mandelduft, bratwurst und glühwein, alles huschte in den bus und kämpfte gegen knoblauch und den geruch nach nassen mänteln.
er stand direkt am stand vor der offenen bustür, und er sah sie in genau dem moment in ihrer sardinenlage, in dem der bus mit einem lauten seufzen aufgab und sich ausstellte. ein kurzes vibrieren, ein hüpfer, ein seufzer aus dem auspuff, dann stand er still und wirkte ein wenig ausgelassen. fragende gesichter der sardineninsassen, böse worte, feirabendgroll und ein augenpaar, welches nur eine kleine sache tat, und zwar den blick von aussen auffangen.
mars sah juli, juli blickte zurück und das karussell neben ihm fuhr eine extrarunde, aber das merkte keiner der beiden. überhaupt merkt ja nur selten jemand, wie sehr maschinen und geräte dem zauber der liebe verfallen sind, die romantische seite derer, denen noch nicht einmal eine seele zugemutet wird, aber der mensch an sich, er braucht sie und ihre angeblichen ausfälle, ist doch der bus der wahre amor dieses abends, und kein dicker engelsbub mit nacktem hintern und dem letzten pfeil in seiner hand.
aber gehen wir zurück zu juli und mars, die sich unbekannterweise neugierig anschauen, mit einem gefühl in der bauchgrube, das auch mit einer verstimmung bezeichnet werden könnte, je nach lage und grund. juli dachte, das er schöne haare hat, dunkle locken die scheinbar mit dem schal um die gunst des nackens kämpfen. das karussell lässt schnellstens seine hellen lampen ausfallen, um die macht der sekunde nicht nur zu nutzen, sondern schonungslos zu potenzieren, so dass sie mars, kaum erblickt, in einem neuen licht sieht, umrahmt, böse zungen würden sagen, kitschig in szene gesetzt. aber es ist ein erster eindruck den man behalten könnte, für später, für die geschichten, für die freunde, denen man zu silvester beim bleigiessen dieses erste treffen erzählt, und warum man immer nur kleine bleibusse giesst, denen die technik ausfällt.

mars, den wir just in diesem moment in gedämpften licht sehen, hat leider keine hand frei um a) arglos in julis richtung zu winken, oder b) hilflos, wie juli in diesem moment, mit der hand in der jackentasche ein taschentuch zu wringen. so steht er da, eine ahnung, was michelangelo damals meinte, links eine gestreifte papiertüte mit gebrannten mandeln, und rechts sein handy, noch ohne julis nummer, aber dennoch vibrierend.
sie sahen sich an. etwas knisterte, mars dachte an seine mandeltüte, juli an die brötchenrtüte in ihrer tasche, keiner kam auf den anderen und die luft drumherum. sie stand immer noch im bus, er meter entfernt draussen, die maschinen warteten, leicht verärgert, keinen pfeil zur hand zu haben.
ihnen geht es zu langsam ? sie möchten gleich hier und jetzt ein happy end, zwei getauschte telefonnummern, das noch vor weihnachten, damit wir uns vorstellen können, juli und mars kaufen schon nächste woche wilden lachs, limetten und frische äpfel für weihnachten ein, während die stadt einschneit, und sie gäben sich endlos verknallten küssen an supermarktkassen hin und verbrächten ein leben wie jeder andere auch ?
nein.
ein bus gibt nicht umsonst einer ausserfahrplanigen pause nach, ein karussell dimmt nicht mal eben seine elektronik, wenn es nicht um etwas ginge, um etwas hohes, um liebe nämlich.

während in mars papiertüte die mandeln kalt werden, überlegt juli konzentriert, was jetzt zu tun sei. sie denkt an ihre lebensjahre samt aller erfahrungen was männer angeht. zeitraffer an, wir sehen mikel, thomas, andy, henning und, jetzt war es an der zeit etwas kleinlich zu werden, sie nahm ihren schulfreund luca-maria auch noch mit in die illustre runde, schließlich ging es um knallharte statistik. und da sie bis auf luca-maria, der relativ neu in deutschland noch alles und jeden mit einem "ciao" versah, alle bei ihrem kennenlernen mit einem "hi" begrüßt hatte, das "hi" scheinbar eine eintrittskarte in zukünftige ex-beziehungen zu sein schien, beschloss juli in diesem moment, nie wieder "hi" zu einem mann zu sagen. und weil ihr klar wurde, das diese entscheidung die eine tür schloss, und eine neue öffnete, bekam sie auf der stelle angst vor der eigenen courage, und dachte sich, dass es vielleicht klüger wäre, überhaupt nie wieder mit einem vertreter dieser spezies zu reden, auf ewig zu verstummen und einfach nur noch dazustehen wie jetzt, und diesen jungen mann anzuschauen, wie er ...

wie er, einerseits aus verlegenheit, andererseits sein bauchgefühl als hunger fehlinterpretierend, die tüte mit den gebrannten mandeln an den mund führte, juli dabei weiterhin fest in die augen sah, sich mit dem mund eine mandel herausfischte und sie zwischen den zähnen mit einem zuckrigen knack zerbiss. er wusste in diesem moment noch nicht, dass er seine kompletten noch folgenden erdenjahre nie mehr ohne den gedanken an juli, wie sie in dem bus stand, mit leuchtend roter nase und einem verwirrten blick, gebrannte mandeln würde essen können. kaum vernahm sein hirn den zuckerknack, spulte es das band *juli ab, und er nahm es als jährlich wiederkehrendes, süsses schicksal zur weihnachtszeit.

mars ass also, und juli sah ihm dabei zu. was weder mars, noch die menschen um ihn herum wussten, war, dass juli, heute morgen noch in einem wartezimmer den gesammelten theorien der frauenzeitschriften fröhnend, einen dreiseitigen artikel über wie-männer-was-essen-und-was-das-jetzt-wieder-bedeutet gelesen hatte. gebrannte mandeln wurden dort nun nicht unbedingt besonders erwähnt, aber es wurde unterteilt in sinnliche, praktische und in fresser. juli strauchelte kurz in betrachtung und einteilung. war der gelockte unbkannte nun sinnlich oder fresser, oder am ende ein mischtyp ? sinnlich wäre toll, dachte sie weiter, während sich das taschentuch in ihrer folternden, warmen hand in seine bestandteile auflöste. juli hatte ihr leben lang immer nur fresser, die, egal was juli, ihre mutter oder giacomo, der ungekrönte italiener der stadt ihnen vorsetzte, alles mit einem gesicht der notdurft hinunterschlangen, die serviette zum naseputzen nahmen und mit einem "so!" jede mahlzeit, und, wie sich später herausstellen sollte, auch jeden kinofilm, jedes buch, und : jeden sex beendeten. "so!"
aber der mann dort drüben, der seine aufmerksamkeit nun zwischen ihr und seiner papiertüte aufteilte, der schien nichts zu sagen, keinen ton.
ich sollte hingehen, dachte sich juli, ich sollte hingehen, bloss nicht "hi" sagen, mir eine mandel nehmen, und warten, ob er "so!" sagt, wenn er mit der tüte fertig ist. und dann entscheiden.
"geht’s da vorne langsam mal weiter ? ich habe hunger!" kommt eine viel zu burschikose stimme aus einer sehr zarten oma, sitzreihe zwei.
"ich auch!" irgendwo hinter juli. niemand gab seinen platz auf, die sardinenlage lockerte sich um keinen centimeter, nur die jugendlichen, im grunde waren es gerade mal zwei, ein er und eine sie, beide bissen an den gegenüberliegenden enden ihrer pizza, der käse zog sich lang, es lag etwas in der luft, das schwerer war als knoblauch und trocken-oregano.

"ich weiß ja auch nicht..." der busfahrer seitlich des motors. ein beherzter griff des fahrers, ein
aufheulender laut des busses, mars wirkte in der darauffolgenden sekunde sehr unzufrieden und juli bekam den teint eines salzcräckers. was, wenn die türen schlossen, der fahrer sich in seine sitzmulde gleiten liess, den bus startete und wegfuhr ? wie lange würde der mittlerweile für juli fast wichtig gewordene junge mann, der auch noch sympathisch, attraktiv, ach was, dachte juli, zum anfressen war, dort an dieser stelle verharren und auf sie warten? wie lange reicht eine gestreifte papiertüte voll mit gebrannten mandeln zum überleben ? wie lange bräuchte sie, um zu hause eine art schnell-restaurierung vorzunehmen, ihre haare in den griff zu bekommen, ansatzweise phantastisch und gegen die mandeln anduftend wie zufällig wieder seines weges zu kommen, nicht "hi" zu sagen, und ihn ... was eigentlich ?
gut, schnelldurchlauf die zweite, die was-wäre-wenn reihe, archiv hinten links. wir spielen den abend ab jetzt durch > klappe, abend die erste!

juli steigt aus dem bus, stellt sich wie zufällig neben mars, bemerkt nicht die exotische schlange an der indischen weihnachtsbude direkt neben sich und wird von einem männlichen prachtexemplar einer ungiftigen spezies durch den mantel in ihren unterarm gebissen. mars ruft "lassen sie mich durch, ich bin arzt" zu den nicht zwischen ihnen stehenden menschen, nimmt ihren arm in beide hände, streift juli den handschuh ab und den ärmel hoch und sieht ihre feine gänsehaut, die sich von dieser stelle am arm über ihren ganzen körper zieht. ein dünner faden blut bahnt sich seinen weg durch die aufgestellten, feinen härchen, mars befeuchtet sich die lippen, nimmt ihr fleisch zwischen beide lippen und saugt das nicht vorhandene gift und sämtliche gegenargumente aus ihr heraus. juli währenddessen kann nicht glauben was sie sieht, bekommt zittrige beine, sagt "so!" und wird ohnmächtig.

schniiittt! furchtbar, so soll es nicht weitergehen.
klappe, abend die zweite bitte !

juli steigt aus dem bus. mars ist von ihrem entknautschten anblick so gefesselt, dass er die in seinem mund befindliche mandel unbeachtet und unzerkaut herunterschluckt. sie bleibt kurz hinter seinen tonsillen stecken, hadert wie beim flipper, ob sie rechts oder links will, entscheidet sich für die luftröhre, tillt und bleibt stecken. mars röchelt kurz, juli bemerkt es und ruft in die nicht vorhandene menschenmenge " lassen sie mich durch, ich bin ärztin!"
sie fängt ihn auf, sinkt mit ihm zu boden, legt eine hand in seinen nacken, und denkt, dass der schal und die weichen, dunklen locken jetzt konkurrenz bekommen, im kampf mit den nacken.
sie sehen sich an, ihre nackten hände in seinem nacken, eine sekunde, zwei, er hält still und sie haut ihm im gleichen moment so heftig in den rücken, wie sie ihm ihre lippen auf seine legt, vorbereitet, falls er luft bräuchte.

schniiiiitt! geht’s schlimmer ? dritter anlauf, jetzt aber bitte mit konzentration.
klappe, abend die dritte, ruhe bitte!

juli denkt, das könnte ihr schicksal sein, während das karussell die jukebox manipuliert und
dean martin lossingt. sie schraubt sich aus der sardinensituation des überfüllten busses, klopft sich den mantel glatt und wird unschlüssig, während mars das gefühl eines pfeiles in der rechten schulter hat und die tüte mit den mandeln sinken lässt. sie sehen sich an, sie denkt an schlaflos in seattle, er, das sie bitte keine tchibo-unterwäsche trägt und beide kommen sich näher, schritt für schritt, und wir sprechen hier von centimetern.
können sie sehen, wie langsam sie läuft ? können sie auch sehen, wie die luft dichter wird, der bus den atem anhält und die wolkendecke aufreisst ? ein sternenhimmel leuchtet über ihnen, als sie vor ihm steht, noch einmal tief luft holt und mit fester stimme und amok laufender seele den mund öffnet und ein "hey" haucht, welches formvollendet und schillernd in seine richtung schwebt, kurz inne hält und ihn dann betäubt. "hey" sagt auch mars, eine oktave tiefer als seine telefonstimme, aber das merkt er nicht, das merkt sie nicht, das wissen nur wir, die stillen beobachter.
juli. ich bin juli, sagt juli, und an dieser stelle lassen wir die beiden alleine, schauen noch einmal kurz zu dem bus, der anspringt und einen erleichterten fahrer aufnimmt, sehen, dass das karussell wieder auf normalbetrieb schaltet und wenn wir uns auf die zehenspitzen stellen, und einmal über die menge schauen, dann sehen wir dort hinten juli und mars, wie sie die seitenstrasse hinuntergehen, einzelheiten aufsaugend, sich ansehend.
wir hatten beide rote nasen, werden sie später sagen. aber das dauert noch.


adventsref

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