Montag, 2. April 2007

Veronika, der Lenz und was italienische Eisverkäufer damit zu tun haben.

Der Mai ist der einzige Monat im Jahr, wo Mensch mit Hilfe von Starkbier wild und ungebremst hineintanzt, und in dem sich gleichzeitig 68% der suizidausführenden bei schönstem Wetter von Brücken stürzen. Meist ist tatsächlich keine Wolke am Himmel, und das letzte, was der stürzende Mensch sieht, ist ein Eiswagen mit den italienischen Nationalfarben auf dem Wagendach.

Frühling. Man kann ihn trapsen hören wie die oft zitierte Nachtigall. Kurz vor dem Ausbruch steht die Natur mächtig unter Strom, die Pflanzen laufen schier über vor üppig steigenden Säften, und nur eine Stunde pralle Mittagssonne richtet eine wahre Orgie der rundum berstenden Knospen an.
Vermehrt sieht man nun auch wieder leer dreinschauende Kleinnager und niedliche Vögel mit gebrochenen Blick auf den Strassen liegen, deren Eingeweide in den Winterprofilen eines Ford Mondeo durch die Stadt gefahren werden, bis sich eine Elster als Endverbraucher darüber freut.
Der natürliche Zyklus einer Großstadt, im Mai ist Schlachtfest bei den Tieren, im Juli Grillsaison im Hinterhof.

Es ist ja jetzt auch wieder länger hell.
Früh morgens Punkt fünf Uhr jubilieren die städtischen Federtiere los, also zumindest all die, welche nicht im Liebesrausch von einem Automobil erfasst wurden, und verbreiten mehrstimmig Frohsinn. Spätestens gegen halb sechs ist es dann gleißend hell, und in Kombination mit dem Konzert kann man eigentlich auch direkt aufstehen, schließlich fängt der frühe Vogel den Wurm. Mensch merke, wenn man noch vor sechs mit dem ersten Kaffee in der gleißenden Maisonne vor den Toren der Natur steht, dann sieht man auch, wo der Ursprung einer solchen Weisheit liegen kann. Die noch im Dunst aus der Erde gezerrten Würmer würden ihr eigenes, lautes Lied davon singen, hätten sie einen Mund, einen Schnabel oder ein Mikrophon von Gott geschenkt bekommen. Ich kann mir denken, warum Würmer keine Kirchen bauen. Ich würde es auch nicht tun.

Tagsüber schleppt man sich und seine bleierne Müdigkeit durch die Stadt. Alles wiegt vier Mal über Normalgewicht, der Rest dauert gefühlt drei Mal länger als sonst, und nur die drastisch verkürzte Schlafenszeit zur Sommerzeit fühlt sich im direkten Vergleich zum Rest an wie noch einmal halbiert. Kaffee ist nun der wahre Freund, das Dopamin der Frühjahrsmüden.
Aber selbst wenn man schon eisig- klamme Achselhöhlen im Shirt fühlt und die Hände zittrig über die Tastatur klappern: der Kopf bleibt im Ausnahmezustand, man lebt und denkt in einer Taucherglocke, die Welt ist Atlantis und alle Mitmenschen sind böse, laute Aliens.

Hat man dann mit Ach und Krach den Abend erreicht, ist es Dank tatsächlich immer noch hell und man selbst nicht wirklich Gesellschaftsfähig, möchte man die Nachrichten in der geliebten Couchdelle in der waagerechten sehen, und mit Alkohol den Koffeingau des Tages relativieren. Nein, man muss aktiv sein, man muss raus an die Luft, und das mit einem sehr glücklichen und nur angedeuteten Lächeln um die Mundwinkel, und so findet man sich nach einem gefühlten Bleientenlauf um den See mit anderen Bleienten in irgendeinem überfüllten Biergarten wieder, und hält genau das in der Hand, ein Bier. Und denkt, dass das jetzt aber man perlt.
Die Sonne scheint immer noch, dabei ist es fast neun. Erneut überdenkt man seine Theorie, das ALLE Mitmenschen böse, laute Aliens sind, die einem gleich die Eingeweide unbemerkt herausoperieren und dann zurück unter Wasser nach Atlantis fahren, auf ihre Aliencouch, im Gepäck die eingetupperten Organe, meine immerhin mit Bier gewässert.

Wär ja eigentlich schön, wäre alles unter Wasser, zumindest für die Sorte der totalen Spassverweigerer, die Allergiker.

Die richtig Scharfen fangen schon im Februar an zu stöhnen, wo die Nicht-Allergiker noch mitten in der Winterdepression im eigenen Saft liegen. Sie niesen, sie kündigen triefenden Blickes den nahenden Frühling an, sie niesen erneut und sagen ‚Haselnuss!’
Der Rest zieht dann gesammelt im April nach, wenn die Birken sich ans Leben und die Liebe erinnern und einfach so anfangen zu blühen.
Ich persönlich war ja zu Jugendzeiten einmal mit einem Allergiker zusammen, und empfand das als so unglaublich anstrengend, dass ich ab Hajo erst einmal alle Männer auf Pollen und Tierhaare prüfte.
Abgesehen von seiner schlimmen Kontaktallergie war Hajo, der eigentlich Hannes-Jochen hieß, auf jede Pflanze allergisch, die auch nur annähernd sexuell aktiv war und eine Blüte produzierte. Seine Mutter schüttelte immer resigniert den Kopf, wenn Hajo pfundweise eingeschneuzte Papiertaschentücher aus seiner Schultasche ans Tageslicht beförderte. Sie sagte dann, das sie selbst ihre geliebte Kaktee, die Königin der Nacht, eines denkwürdigen Datums an ihre Kollegin abgeben musste, da diese Königin dann nach vier Jahren Vollpflege plötzlich und unerhört blühte.
Eine ganze Nacht, wie der Name schon verspricht.
Hajo bekam einen Asthmaanfall, seinen ersten und ebenfalls die ganze Nacht, und der gerufene Notarzt musste sich bei der Cortisonspritze das Lachen verkneifen, bei so viel Ähnlichkeit zwischen Hajo und der Königin.

Ich bin keine Allergikerin, bekomme ausreichend Luft und rieche auch sehr gut, was mich zum nächsten Punkt auf der Frühlingsliste bringt: Hundekot.
Täglich umgehe ich eine kleine Wiese, die an sich sehr harmlos wirkt. Drum herum ein paar Kastanien, Altpapierkontainer, eine beim Sperrmüll vergessene Lampe und die obligatorische Oma mit hüftsteifem Dackel, die serienmäßig bei jeder öffentlichen Stadtwiese dabei ist. Osterglocken wackeln im der leichten Brise.
Unter der Frühlingssonne erwärmt die Wiese sich, und so kommt die wahre Seele dieser kleinen, innerstädtischen Naturzunge heraus: sie fängt in sich an zu kochen und zu stinken. Jeder unter Not und Zeitdruck abgelegte Hundehaufen entwickelt eine eigene Geruchsglocke, und selbst die Hunde halten sichtbar die Luft an, wenn sie von ihrem Menschen auf die Wiese gezwungen werden um, laut Dackel-Oma, ‚Schieta zu machen’.

Das Besondere an dieser Wiese ist, dass man die nächste Spezies Mensch dort eigentlich nie antrifft, die frisch Verliebten. Laut Statistik finden 62% der Paare am häufigsten im Wonnemonat Mai zueinander, des Zaubers Formel heißt Hormonkoller und getrennt wird sich zu 56% vier Jahre später im Februar, also etwas nach Weihnachten und knapp vor Ostern. Der Singlemensch hat dann den ganzen März und April inklusive der ersten warmen Tage Zeit, eine knackige reaktive Depression zu entwickeln und zu fasten, sich dann Hals über Kopf zwischen der Osterauslage im Tengelmann zu verlieben um im Mai zu zweit an dem jeweiligen Stadtfluss der Stadt entlangzuschweben. Man erkennt diese frischen Paare ganz einfach: Sie sind frisch erschlankt dank Trauerdiät und Singleschock, laufen nicht mehr als Individuum sondern nur im Tandem mit dem Neuen Partnermensch und verkeilen sich alle fünf Minuten neu ineinander. Kommen sie dann an einem kleinen VW-Bus vorbei, auf dem in jeder Stadt „Giacomo“, „Salvatore“ oder „Giovanni“ steht, schauen sie sich sehr warm an, und der Mann kauft ein Eis.
EIN Eis.
Im Hörnchen.
Frisch ineinander verknotet wird dann zweisam an der Straciatella-Kugel gezüngelt und jeder Satz gekichert ausgehaucht.
Würden sie den Blick ein einziges Mal von ihrer Waffel nach oben wenden, dann bemerkten sie, dass sie beobachtet wurden, die ganze Zeit. Dann würden sie auch sehen, wie gerade wieder einer der 68 Prozent sehr entnervt und entschlossen das Sprungbein über das hüfthohe Brückengeländer brasselt und ein letztes mal tief Luft holt, sich die Nase zuhält und - springt.

Am Ende sind wahrscheinlich die italienischen Eisverkäufer in ihren umgebauten VW-Bussen Schuld, dass an schönen Tagen ohne eine Wolke am Himmel die Statistik Jahr um Jahr erhalten bleibt.