Mittwoch, 18. Oktober 2006


(...) "Schreiben ist eine Bewegung, die uns mit dem Schmerz vertraut machen möchte, sagte Linda.
Ist es nicht umgekehrt? fragte ich; verwandelt der, der schreibt, nicht die Unübersichtlichkeit des Lebens, das heißt seinen Schmerz, in die Unübersichtlichkeit eines Textes?
Das ist eine Illusion, sagte Linda.
Können Sie es etwas genauer sagen?
Die Illusion der Klarheit kommt zustande, sagte Linda, weil der Text immer deutlicher ist als das Leben dessen, der ihn geschrieben hat. Der Text ist sogar klarer als das Leben jedes beliebigen Lesers. Darin liegt die fürchterliche Verlockung der Literatur; das Leben soll endlich dem Text folgen, es soll sich in Klarheit verwandeln.
Aber die Leser spielen doch keine Rolle, sagte ich; oder denken Sie beim Schreiben an den Leser?
Nein, sagte Linda.
Sehen Sie, sagte ich.
Aber daraus sollte man keine falschen Schlüsse ziehen, sagte Linda; jeder Text wendet sich, indem er geschrieben wird, zurück an seinen Verfasser, um ihm den Schmerz zu erklären, der zu seiner Entstehung geführt hat."

(Wilhelm Genazino, "Eine Frau, eine Wohnung, ein Roman")

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Danke für das Zitieren dieser Passage. Wunderbar. Und so wahr.

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