Dienstag, 17. Januar 2006

jederzeit.

Als der Bus aprupt zum stehen kommt, lasse ich das Buch auf die Knie zurück und sehe ihn auf dem Boden liegen, direkt zu meiner linken Seite, mitten auf dem Bürgersteig. Er hat gute Schuhe an und neben seiner Hand liegt eine Bäckertüte mit wenig Inhalt.
Sie haben ihm das Hemd aufgerissen, der Bauch massig und weiß. Er kommt in Wallung unter dem Druck. Mehr kann ich nicht sehen, eine Menschentraube verfolgt die Szene gebannt, in ihren Gesichtern steht viel.
Luft- ihr müsst ihm Luft geben, denke ich und meine Füsse laufen auf der Stelle. Der Mann, der die Herz-Massage übernommen hat schwitzt stark in den Minusgraden des Mittags. Luft. Warum gibt ihm keiner Luft? Ich weiß nicht, warum ich mich so auf die Luft eingeschossen habe, der Bus ruckelt, ich starre auf die Brötchentüte, den Bauch, denke in seine Richtung, dass er es sich vielleicht etwas zu sehr hat gut gehen lassen. Vielleicht hat niemand darauf geschaut, vielleicht ist niemand da, der drauf schaut, auch jetzt nicht. Der Inhalt der Brötchentüte reicht nicht für zwei, denke ich und der Bus fährt los. Ich drehe mich um, sehe immer noch seinen Bauch und seine Füsse, wie sie in die Luft schauen, hoffe für ihn, dass er es schafft.

An der nächsten Haltestelle steige ich aus. Von hier sind es stramme fünfzehn Minuten zur Arbeit, Luft tanken, Energie holen, Freiheit genießen.
Jetzt jedoch nicht. Die sonnige Stimmung des Vormittags ist mit einem Schlag weggewischt, ich laufe die Brücke zum Wehrhahn, beiße mir auf die eiskalten Lippen und versuche die Bilder die hochkommen anzusehen, wahrzunehmen, damit sie gehen.
Der Tod, und das beschäftigt mich die letzten Monate am meisten, er kommt wie er will, und das macht das Leben so zerbrechlich. Nichts neues, ich weiß.
Ich denke die Dinge immer weiter, sehe ich Geschichten um den Tod. Man wird einfach rausgerissen aus dem Tagestreiben. Was hatte sich der Mann, als Beispiel, wohl vorgenommen für den Tag? Vielleicht schnell ein Brötchen, der Vorsatz des Vollkorns wird noch eingehalten, 2006 ist jung.
Nach der kleinen Mahlzeit das Wetter ausnutzen? Vielleicht ein Spaziergang am Rhein, ein Besuch bei Freunden, ein Bier in der Altstadt. Hat er sich beim Bezahlen schon anders gefühlt?
Ahnt man es, wenn man morgens aufsteht? Hat man mehr Ungeduld oder Ruhe?

Abends, die selbe Stelle. Alles wie immer, ein Berber steht dort und trinkt einen Schnaps. Ich frage mich, ob er dorthin geht, sollte er "es" schaffen, und wie es sich anfühlen würde, an genau der Stelle zu stehen, an der man um sein Leben kämpfte, irgendwie entwürdigt unter Fremden mitten auf einer belebten Strassenkreuzung. So viele Fragen, manchmal. Und dieses Gefühl, zu durchlässig zu sein für diese Eindrücke. Vielleicht geht der Mann an der Stelle vorbei, täglich, und denkt sich nichts dabei, während ich immer daran denken würde. Vielleicht.

Mitten in die Fragen und das Aufschreiben brummt mein Telefon. "Hast Du Zeit?" kommt es etwas zu erstickt aus dem Hörer.
"Klar, was ist passiert?"
Alarmglocken bei Anrufen von Frauen, die um diese Zeit normalerweise nie anrufen, und diese erst Recht nicht. Über fünfzig, Geschäftsfrau, nie verheiratet, Modebranche.
Ihr Kater wurde überfahren, vor drei Nächten. Er lag auf dem Bürgersteig als eine Nachbarin schellte und sagte, dass dort ein schwarzer Kater, und ob sie mal eben schauen könnte.

Sie wüßte jetzt nicht, die andere sucht, und sie hat ihr doch den toten Sohn noch hingelegt, damit sie schnuppern und begreifen könnte. Sie weint, als sie erzählt, das sie ihn im Garten bei den Rosen begraben hätte. Und sie weint, weil sie weiß, das ich sie verstehe, und nicht sage, sie wäre bekloppt und die Katze eben nur ein Tier. Ihre Tiere, Katze wie Hund, sind ihre Kinder und Anker, und sie weiß grad nicht, wohin mit der Sorge und den Gedanken. Wir reden lange und über das Leben, wie immer in unseren wenigen Telefonaten im Jahr. Sie sagt, wenn ihre Mutter stirbt, dann wäre sie allein auf der Welt. Kein Mann, keine Kinder, keine Familie mehr.
Ich biete ihr mich zur Adoption an, frei gewählte Familie, und aus der Pubertät wär ich auch schon.
Wenigstens lacht sie am Ende, und ich sage ihr, jederzeit.

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zeit nehmen für kleine momente, andere menschen, um innezuhalten. das ist das wichtigste im leben. und offenbleiben. für das plötzliche - schöne wie traurige.

ich habe mich gefragt die letzten monate, wie ich mich mit dem wissen um den tod über das leben freuen soll, wenn doch jeder moment der letzte sein kann. doch es macht das leben kostbarer, die momente bunter.

danke für deine "geschichten"!

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(danke.)

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Der Tod
Ich gestehe: ich habe keine Angst vor dem Tod, bloß vor den davor meist auftretenden Krankheiten und Schmerzen.

Der Tod an sich soll ein sehr schönes Gefühl sein, sagen zumindest jene die wieder zurückkamen. Ich glaube daran, ganz fest und ganz egal was nach dem Tod kommt. Das ist aus der diesseitigen Sicht einerlei. Wir leben solange wir leben, wir lachen, wir weinen, wir sorgen uns und freuen uns auch.

Es ist eben so *shrug* in der nächsten Sekunde kann es bereits vorbei sein. Der Tod holt uns, sobald ihm das Schicksal den Auftrag dazu erteilt.

Wer mehr darüber wissen möchte, dem kann ich folgende Geschichte sehr empfehlen:

Der Tod und das Mädchen - Erster Teil

Und hier:

Der Tod und das Mädchen - Homepage

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