Montag, 26. Mai 2008

friedliche höfe an traurigen tagen, oder wie ein staat ameisen zu einem unverhofften fest kam.

Fahre ich also doch los, nachdem ich 26 Minuten auf die Uhr geweint habe.
26 Minuten, das war die Zeit, die Du zum gehen gebraucht hast, heute vor drei Jahren. Ich gehe rückwärts, sehe uns, sehe mich, sehe Dich, Mutter, Mülltonnen, Lufterfrischer, Morphium, Würste aus Taschentüchern und dieser penetrante und plötzliche Sommer vor den Fenstern der Intensivstation.
Eigentlich sehe ich nichts; eigentlich fliegen Eindrücke vorbei. Ich am Telefon mit meinem halben Bruder. Ich die Hiobsbringerin, und er dann auch schon Tod, wie man das so sagt, keinen Monat später.

Geht nur alle, denke ich später, als ich mit dem Rad durch den Volkspark fahre. Schwere feuchte Luft, flotte Schnecken, Junkies. Ich mag es alles nicht. Gut, bis auf die Schnecken, der Rest, den nehme ich nicht wahr. Ich denke an Warnemünde, an Stade, an Krabbenkutter und an die Backstube, in der ich als Kind so gerne war. Ich denke an den Spielplatz vor der Bäckerei, den Lessingplatz, und wie Du mit mir auf die Rutsche gegangen bist, unermüdlich. Bis zu dem Tag, wo Du gesagt hast, das ich es alleine schaffe. Dann hast Du mich losgelassen, und ich hielt mich fest und stieg die Metallstäbe hinauf. Und immer höher. Und ich wusste, dass Du hinter mir stehst, und Kinder können plötzlich Dinge, nur weil Eltern daran glauben.
Das geht, auch später.

Ich glaube nicht, dass irgendetwas auf dem Friedhof Wert auf meine Anwesenheit legt. Ein paar Eichelhäher freuen sich über den Keks, Dein kleines Grab wie frisch gefegt, rechts steht schon wacker gegen die Schwüle brennend Mutters Kerze.
Ich stelle meine links, lege die Butterblume neben die Rosen, die ich eben von der Wiese wegpflückte. Ich stuppe gegen Deinen Stein und bin ratlos.
Wie lange war ich nicht hier?, sage ich zum Stein. Knapp ein Jahr? Oder ein ganzes? Ein halbes ist es, ein halbes. Dann stehe ich auf und setze mich auf die Bank am Ende der letzten Urnenreihe. Jetzt muss ich an alle denken, die weg sind. An Dich, an den halben Bruder, an A. und an Mike, und an mein Leaderfellchen, der mir jetzt seit über einem halben Jahr an der Seite fehlt. Ich denke an Tante Gisela, und wie sie bei der Beisetzung plötzlich haltlos in Tränen ausbrach. Ich fragte mich damals schon, ob es aus Trauer um Dich ist, oder aus Trauer um sich selbst. Man denkt ja auch an sich, wenn andere in die Erde gelassen werden, und das man irgendwann selbst dran ist und die seiten wechselt. Da kann man schon einmal richtig in Tränen ausbrechen, ich finde das toll, Tante Gisela hab ich da noch gedacht.
Geht nur alle, denke ich, und kippe den Rest aus der Kekspackung neben eine Ameisenautobahn. Helle Freude, alles trägt.

Ich hab hier leider nichts zu tun, sag ich in die nasse Luft und wische mir die Augen trocken, und Du, Du bist auch nicht da, das merke ich doch. Dann -
( - sei nicht so traurig.)
Ich halte inne. Einbildung, Unterzucker, vielleicht der Gedanke einer Ameise.
Trotzdem gehe ich danach, versuche nicht traurig zu sein und bin es doch. Auf dem Weg zurück fahre ich fast gegen einen Mann, der aus einem Weg von rechts in meine Fahrlinie kommt. Er erinnert mich an Dich, er guckt belustigt aus meerblauen Augen. Und ich denke 'aha' und das da vielleicht doch irgendwo einer aufpasst.

Was ich sagen wollte: Ich klettere noch immer, Sprosse für Sprosse, die Hände riechen dabei nach kaltem Eisen.
Und der Platz hinter mir ist jetzt leer.

26mai08