Dienstag, 18. September 2012

Reisnotizen Normandie September 2012 - Tag 2

Sonntag, 09.09.2012

Der Hund ist um 7:50 ausgeschlafen und ich um 7:51 mit nass gelecktem Gesicht wach und schaue auf die Uhr vom Handy. 7:51. Fast zehn Stunden geschlafen, ich bin fassungslos. Draußen vor dem Fenster drei oder vier Hähnchen in akustischer Konkurrenz oder im Chor, so genau weiß ich das jetzt auch nicht. Die Luft ist samtweich und leicht salzig, die Kaffeemaschine unglaublich langsam, die Gockel haben immer noch genug Puste um das Dorf in seinen Grundfesten zu erschüttern. Ich begeistere mich an den Seiten 48 und 49 aus Schlingensiefs Buch, während es in meinem Rücken bedrohlich gurgelt und dampft. Alles unglaublich. Also unglaublich gut.

Eine gute Stunde später rennt besagter Hund weg, immer gerade aus, über ein Feld Richtung Küste, einem gut gebauten Hasen hinterher. Ich bilde die dritte Staubwolke im Acker, man erkennt mich an der lauten Schimpfe und den derben Flüchen, die ich dem Hund hinterher rufe. Der hört mich nicht. Hat zu tun und sowieso: Wind. Irgendwann haben wir uns wieder. Ich Puls von 280, der Hund Schaum vorm Mund, alle staubige Socken. Er wieder an der Leine. Sausack.

In der prallsten Vormittagssonneetwas getan, was ich seit drei Jahren nicht mehr getan habe, zumindest in dieser Form. In bin in ein eiskaltes Meer gegangen, Stück für Stück, und bin geschwommen, Meter für Meter. Vorher, in der runterkühl-Phase, noch eine fliegende Ameise mit dem Finger aus den Wellen gerettet und pragmatisch auf dem Kopf abgesetzt. Den will ich heute nicht unterdippen, zu sonnenheiß, da kann sie ihn Ruhe trocknen und abdampfen, wenn sie wieder flugfähig ist. Irre, wie weit diese winzigen Körper fliegen können. So zogen wir zu zweit ein paar kräftige Bahnen, und ließen die Alabasterküste im Rücken zurück.
Also nicht wirklich. In echt strampele ich durchgehend, damit meine Kerntemperatur nicht unter „lebendig“ fällt und denke darüber nach, wie seltsam es sich anfühlt, den eigenen Körper in Badeklamotte im offenen Meer. Kein Teich, kein See, kein Bassin – nein, Meer. Salziges, herrlich kaltes Meer mit Wellen. Als ich wieder rausgehe, mit Algen bedeckt und einem schönen, blass-blauen Teint, da ist der Strand voll und ich will da weg.
Zurück im Chalet, keine dreißig Minuten später, liege ich salzig und mit meiner kompletten Erschöpfung der letzten Monate im Bett und: bekomme den Kopf nicht aus. So habe ich das seltsame und fast befremdliche Erleben, dass mein aktiver wacher Geist meinem schlafenden Körper beim Atmen zuhört. Richtiges Schlafatmen, stoßweise, tief, ruhig. Gott sei Dank bin ich nicht seitlich aus mir selbst gekippt, und nach Deutschland geschwebt, man liest ja manchmal so Zeug, wo Leute dann betroffen bei Lanz sitzen und erzählen, wie ihr Astralkörper nicht vom Telefonmast wegkam, Energiebarriere und so.

Unsere Nachbarn im Chalet gegenüber, die mit dem Pitbull, kommen aus Rotterdam. Wir stehen zwischen unseren Häusern und einigen uns auf Englisch, und ich wundere mich, wie Hundebesitzer so blass sein können. Beide sind weiß wie die Alabasterfelsen – aber mit Hund ist man doch andauernd draußen und trägt mindestens –wie ich- eine schicke Maurerbräune, also Gesicht und Arme an Shirtärmelhöhe sind mit einem Teint versehen. Ich tippe innerlich auf englische Vorfahren oder Mondscheinkrankheit.
Erzähle nebenbei, dass wir unsere eigene Spinne mitgebracht haben. Die lebt im Außenspiegel des Autos, und hat die ganzen knappen 600 km verpennt. Kommt jetzt abends raus, macht ihr Netz frisch und wundert sich sicher über die salzigen Insekten. Ich spiele laut mit dem Gedanken, sie hier zu den anderen Spinnen in die gigantische Hortensie zu setzen. Die ist traumhaft, und mir gefällt der Gedanke, dass sie dann in der Normandie wohnt, am Meer. Hat es schon mal einer aus unserem Haushalt geschafft, ans Meer zu ziehen. Kann leider keine SMS schreiben, oder uns Einladen. Naja.

Abends ein gigantisches Stück Lachs verputzt. Leider wässrig. Leider egal weil Seelufthunger. Dafür war der Muscadet süß statt salzig - verkehrte Welt heute. Viel rumgesessen und gelesen, dabei den Wetterwechsel der alle zwei Minuten stattfand, ausgiebig angeguckt. Wann hat man da schon mal so lange Zeit für. Zur eigentlich blauen Stunde noch mal den Hund gesattelt, und in grauem Licht ans Meer, Kühe gucken.
Am Meer viel Dunst und gallige Jungbullen. Leo pullert einem direkt vor die Nüstern, was den wie wild Scharren lässt. So stehen sich ein Hunde-Macho und ein Bullen-Macho gegenüber, und Scharren und Wetzen was der Boden hergibt.
Und als es so richtig gemütlich bleigrau wurde und kaum noch Licht da war, da fand ich, jetzt ist Zeit für den Dorffriedhof. Dieser ist im Kern, direkt um die Kirche herum, über breite Stufen einer Natursteintreppe einladend begehbar. Ich mag die Tatsache, dass in den alten Dörfern die Toten ein Teil des täglichen Lebens sind. Der Bäcker, der Metzger, die kleine Kneipe und der immer geschlossene Lebensmittelladen sind direkt um die Kirche herum, und die Steine und Kreuze publik. So kann man beim täglichen Brotkauf mal eben zum Beispiel seinem Opa zuwinken, oder in der Schlange im Tabakladen über den Onkel nachdenken, der da hinten links genau so im Abseits liegt, wie er Zeit seines Lebens auf Familienfesten im Abseits lag. Viele Gräber sind neu (2005), manche, direkt daneben, sind so alt, dass man nichts mehr erkennt, außer einem Kreuz. Alle haben viel Marmor und kleine Tafeln mit Sprüchen drauf. Merci! steht simpel auf einer. Was will man auch sonst sagen, außer ein Danke. Das hier ist alles auf Ausdauer angelegt, nicht auf Vergänglichkeit. Die Gräber bleiben bestehen, auch im rauen Meerklima.

Aktuell ist es 21:18, alle todmüde, aber jetzt schon ins Bett? Tage sind ohne Arbeit, Internet, Telefon und TV tatsächlich lang. Der war lang genug, ich geb nach, Morpheus Arme locken.